Trance in traditionellen Kulturen
Trancephänomene sind in traditionellen Kulturen weit verbreitet und sind Gegenstand anthropologischer Untersuchungen. Sprechen die Anthropologen von Trance, beziehen sie sich auf eine breitere Basis von Phänomenen und deren Induktion als es in der Hypnosetherapie üblich ist. Der Anthropologe Arnold Ludwig beschreibt fünf Typen von Tranceinduktionen, zum Beispiel die Reduktion von Außenreizen und körperlichen Bewegungen (Ludwig, 1968 1)). Dies ist eine Form der Tranceinduktion, die sich etwa bei den Sioux-Indianern findet, wo die jungen Männer des Stammes bei den Mannbarkeitsriten zum ersten Mal in ihrem Leben vollkommen alleine sind, nackt in einer Höhle fasten und darauf warten, daß ein Totemtier erscheint, welches sie für den Rest ihres Lebens begleiten wird (Lame Deer & Erdoes, 1972 2)).
Ein Tranceinduktion kann auch über die Steigerung von Außenreizen und der motorischen Aktivität bewirkt werden, etwa durch Tanzen. Dies ist etwa der Fall beim Voodoo-Kult, wo Medien ekstatisch so lange tanzen bis sie von einem Geist besessen sind.
Ein weiteres wichtiges Mittel bei der Tranceinduktion in traditionellen Kulturen sind Drogen, eine Methode, die etwa im Amazonasgebiet weit verbreitet ist. So bei den Amahuaca-Indios, die sich durch die Einnahme von Ayahuasca (banisteriopsis caapi) in Trance versetzen und mit bstimmten Geistern, den Yoshi, Kontakt aufnehmen, um sie über die Zukunft und andere Dinge zu befragen (Carneiro, 1964 3)). Neben der Reduktion bzw. Steigerung von Außenreizen sowie der Verwendung von Drogen verweist Ludwig noch auf die Steigerung bzw. Reduktion der mentalen Aktivität als Tranceinduktion. Diese fünf verschiedenen Formen der Tranceinduktion haben letztlich eines gemeinsam, nämlich Veränderungen im Denken, eine Veränderung der Zeitwahrnehmung, des Körperschemas, Verzerrung der Wahrnehmung und Änderung in der Erfahrung von Emotionen. Diese Veränderungen sind aber auch die Veränderungen, die bei der Tranceinduktion mittels Hypnose berichtet werden.
Bei den in traditionellen Kulturen weitverbreiteten Tranceritualen lassen sich zwei Trancetypen voneinander unterscheiden wie von Erika Bourguignon (1973) belegt. Bourguignon berichtet in ihrer umfangreichen Studie über die Verwendung von Trance in 488 traditionellen, über die ganze Welt verteilte Kulturen. Dabei stellte sie fest, daß bei 90 Prozent der Kulturen Trancerituale institutionalisiert sind bzw. waren, also einen festen Platz im sozialen Leben der jeweiligen Kultur haben bzw. hatten. Warum haben sich im Laufe der Jahrtausende Trancerituale auf der ganzen Welt herausgebildet, und dies auch bei Kulturen, die aufgrund der geographischen Gegebenheiten niemals Kontakt miteinander hatten? Die Antwort auf diese Frage ergab sich aus einer überraschenden Regelmäßigkeit bezüglich der Beziehung zwischen Trancetyp, Kulturstufe und Geschlecht der Teilnehmer an Tranceritualen.
Zunächst einige Bemerkungen zum Trancetyp: Wie Bourguignon aufgrund ihrer Untersuchungen herausfand, lassen sich weltweit zwei Grundtypen von Trance unterscheiden. Zum einen die sogenannte Besessenheitstrance, in der ein Medium von einem Geist besessen ist, wobei die Persönlichkeit des Mediums in Trance vollkommen in den Hintergrund tritt. Diese Trance wird in der Regel vor einem Publikum erlebt und ist gewöhnlich von einer völligen Amnesie begleitet. Der zweite Trancetyp ist dadurch gekennzeichnet, daß der in Trance Befindliche nicht seine Persönlichkeit verliert, sondern seine Identität behält. In der Trance hat er die Möglichkeit, Kontakt zu einer spirituellen Ebene aufzunehmen, zu den Geistern, Göttern oder Dämonen. Eine Amnesie tritt in der Regel nicht auf.
Und nun zu den schon erwähnten Regelmäßigkeiten zwischen Trancetyp, Kulturstufe (Jäger-Sammler versus Ackerbau-Viehzucht) und Geschlecht der Tranceteilnehmer: In den Jäger- und Sammlerkulturen sind es in der Regel die Männer, die an den Tranceritualen teilnehmen, in denen Tranceinhalte des zweiten Typs auftreten. Sie behalten also ihre Identität und es besteht keine Amnesie für das in Trance Erlebte. Diese Zuordnung läßt sich über alle Kontinente hinweg beobachten, sei es bei den Buschmännern der Kalahari, bei den Amazonasindios, den nordamerikanischen Indianern oder den Fischern der Südsee.
Bei den Ackerbau und Viehzucht treibenden Kulturen sind es in der Regel die Frauen, die an Tranceritualen teilnehmen, bei denen in Trance ein Geist Besitz von ihnen ergreift, und die sich nach der Trance an nichts mehr erinnern können.
Diese weltweit zu beobachtende Regelmäßigkeit erklärt Bourguignon folgendermaßen: Im Verlaufe der Menschheitsentwicklung hat sich die Verwendung von Trance als Mittel zur Reduktion seelischer Belastungen und damit zur Verhütung psychischer Erkrankungen herausgebildet, sozusagen als psychohygienische Prophylaxe. Bei den Jägern und Sammlern sind es die Männer, die oft alleine im Urwald mit seinen vielen Dämonen jagen und die Krieg führen müssen. Um die dabei auftretende starke Angst und Unsicherheit zu kontrollieren, haben sie sich in früheren Tranceritualen einen Schutz bzw. einen Begleiter gesucht (Totemtier, persönlicher Schutzgeist), der ihnen in der angstauslösenden Situation Ruhe und Sicherheit vermittelt.
Bei den Frauen in den Ackerbau- und Viehzuchtgesellschaften werden ebenfalls seelische Spannungen in den Tranceritualen, den Besessenheitstrancen vermindert. In diesen Kulturen haben Frauen einen sehr geringen Status. Ihre Lebensplanung ist vollkommen abhängig von ihrem Ehemann, der sie u.U. für ein paar Stück Vieh gekauft hat; es wird Wert auf Gehorsam und Mitarbeit gelegt. Sie müssen sich gegen Nebenfrauen und u.U. gegen eine Schwiegermutter durchsetzen, wobei extreme Eifersucht und Haß auftreten können. Um sich von diesen starken Emotionen, die ohne Bearbeitung krank machen können, zu befreien, werden diese in der Besessenheitstrance ausgelebt, ohne daß die Frauen dafür belangt werden können. Denn dem Geist, der von den Frauen Besitz ergreift, ist es erlaubt, voll Haß und Wut zu sein, Verwünschungen und Flüche auszustoßen, nicht aber der Frau, die den Geist während der Trance beherbergt. Im übrigen ist das Medium während der Trance ja 'eigentlich' auch gar nicht präsent, denn in ihrem Bewußtsein nistet der Geist, was durch die Amnesie der besessenen Frau für die Tranceinhalte unterstrichen wird.
Literatur:
1) Ludwig, A. (1968). Altered states of consciousness. In: R. Prince (Hrsg.): Trance and possession states. Montreal: R.M. Bucke Memorial Society.
2) Lame Deer, J. & Erdoes, R. (1972). Lame deer, speaker of visions. New York: Simon & Schuster.
3) Carneiro, R.L. (1964). The Ayahuasca and the spirit world. Ethology, 3, 6-11.
4) Bourguignon, E. (1973). Introduction: A framework for the comparative study of altered states of consciousness. In: E. Bourguignon (Hrsg.), Religion, altered states of consciousness and social change. Columbus: Ohio State University Press.